
Bei der Diskussion um eine mögliche Einführung des Schulfachs Alltagswissen fällt mir immer ein afrikanisches Sprichwort ein: Zur Erziehung eines Kindes braucht man ein ganzes Dorf. Das mag auch der Grund sein, warum ich zwar reflexartig dem Ruf von Bundesbildungsministerin Wanka nach diesem Fach zustimmen möchte, jedoch ebenfalls Verständnis für die Kritiker habe. Ein Kritiker ist Udo Beckmann, Bundesvorsitzender des Verbandes Bildung und Erziehung. Er spricht sich dagegen aus, sämtliche gesellschaftlichen Probleme auf die Schule abzuladen. Schließlich habe auch das Elternhaus eine gewisse Funktion zu erfüllen. Das stimmt natürlich, aber die Idee für ein solches Fach kommt ja nicht von ungefähr. Im Januar löste die Gymnasiastin Naina mit einer einzigen Kurznachricht auf Twitter eine bundesweite Diskussion aus: Ich bin fast 18 und hab keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen. Aber ich kann ´ne Gedichtsanalyse schreiben. In 4 Sprachen. Vor allem junge Menschen stimmten Nainas Aussagen in den sozialen Medien zu. Nun hat es 1978, als ich Abiturientin war, noch kein Twitter gegeben. Dennoch hätte ich diesen Aussagen mit Sicherheit zugestimmt. Zu jener Zeit hatte ich das Gefühl, manchmal in der Schule am reellen Leben vorbei gelernt zu haben. Wie oft hätte ich mir als junge Frau gewünscht, schon einmal einen Mietervertrag oder Arbeitsvertrag gesehen zu haben, bevor der Ernst des Lebens mir einen solchen zur Unterschrift vorlegt. Aber bereits vor 2000 Jahren kritisierte der römische Philosoph Seneca Nicht für das Leben, für die Schule lernen wir (Heute ist die umgekehrte Version des Zitats bekannter). Das Problem haben wir folglich schon vor geraumer Zeit ausfindig machen können. In der heutigen Zeit sind die Alltags-Anforderungen sogar noch gestiegen. Als Rechtsanwältin denke ich sofort an die Tücken von Handy-Verträgen.
Bildungsministerin Wanka möchte all diese Probleme mit einem eigenen Fach Alltagswissen lösen (ich persönlich muss da sofort an Hauswirtschaftslehre oder Polytechnik denken). Was aber genau ist Alltagswissen? Kochen, Nähen, Spülen, Handwerkern, Schnürsenkel binden, Verträge und Formulare ausfüllen können füllt noch lange keinen Alltag aus. Wir befinden uns mitten in einem Mentalitätswandel, der geprägt von einer mehr und mehr digital werdenden Gesellschaft ist. Und damit meine ich nicht nur Suchmaschinen, Apps oder soziale Netzwerke. Selbst die richtige Bedienung von Navigationsgeräten spielt eine immer wichtigere Rolle in unserem Leben. Oder man denke an das mulmige Gefühl, dass einen ergreift, wenn das Mobiltelefon vergessen wurde. Auch die Arbeitswelt organisiert sich mit der Digitalisierung neu. Sind Datenschutz oder Privatsphäre Nischenthemen oder Alltagswissen?
Natürlich habe ich auch als Mutter zweier erwachsener Kinder große Sympathien für ein Fach Alltagswissen, aber wo fangen wir an und wo hören wir auf? Passt das alles in ein einzelnes Fach? Bedeutet es nicht eher, dass wir Alltagswissen besser in den normalen Unterricht einfließen lassen müssen? Eine Empfehlung der Kultusministerkonferenz lautet, Verbraucherbildung an Schulen stärker in den Lehrplänen zu verankern. Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel selbst ursprünglich Lehrer hatte nach eigenen Aussagen bereits Ärger mit Latein- und Griechischlehrern gehabt, weil er Griechisch und Latein für nicht so wichtig hält. Er hätte es lieber, wenn Ökonomische Bildung und Programmiersprache Einzug in den Lehrplan finden würden.
Ich kann jede Lehrerin und jeden Lehrer verstehen, die sagen: Was sollen wir denn noch alles machen. Bereits heute werden Lernorte aufgesucht, die außerhalb der Schule sind. Auch finden Themen aus dem Alltagsleben im Unterricht statt. Dennoch müssen wir offen und ehrlich diskutieren, ob unsere Schulen alltagstauglich genug sind. Und ja: das bedeutet auch, dass wir darüber reden müssen, welche Rolle das Elternhaus – welche Rolle das Dorf spielt.