Bericht des Kreis Anzeigers vom 20.08.2018 – Ärzteversorgung und Nahverkehr

SPD-Politiker beleuchten Lebensqualität im ländlichen Raum/ Kritik am Handeln der Landesregierung und Versäumnis der Kassenärztlichen Vereinigung

ORTENBERG – Zu einer Diskussion über die Lebensqualität im ländlichen Raum hatten die Bundestagsabgeordneten der SPD Bettina Müller und Ulli Nissen in das Bürgerhaus Ortenberg eingeladen. Außer ihnen saßen mit der Landtagsabgeordneten Lisa Gnadl, dem ersten Beigeordneten des Regionalverbandes Rouven Kötter und Bürgermeisterin Ulrike Pfeiffer-Pantring ausgewiesene Fürsprecher der Region auf dem Podium.

 

Müller und auch Nissen, die einen Frankfurter Wahlkreis im Bundestag vertritt, sind ebenfalls mit den Themen des ländlichen Raumes vertraut. Nissen ist Mitglied des Ausschusses für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und Kommunen. Müller betonte als Expertin für soziale Themen vor allem die Probleme durch die Unterversorgung mit Ärzten. Viele Fehlentwicklungen in strukturschwachen Gebieten erlebt sie am Rande des Main-Kinzig-Kreises selbst.

 

Obwohl Nissens Blick auch stark ihrem Wahlkreis Frankfurt mit dessen spezifischen Problemen gilt, wies sie auf die Abhängigkeiten zwischen dem Ballungsraum und dem Umland hin. Das beträfe auch eines der „dramatischsten“ Probleme Frankfurts, den Mangel an bezahlbarem Wohnraum. Schon jetzt fehlten dort 40000 Wohnungen. Wenn immer mehr Menschen, die in Frankfurt arbeiten, aus dem Umland in die Stadt zögen, würde sich dieses Problem weiter verschärfen. „Deshalb ist es auch aus ureigenstem Interesse für mich als Frankfurterin wichtig, dass hier auf dem Land die Lebensverhältnisse gut sind.“

 

Pfeiffer-Pantring nannte weitere Aspekte dieser Abhängigkeit. Frankfurt erwirtschafte ein Drittel des Gewerbesteueraufkommens in Hessen. „Das sind ja nicht nur Frankfurter, die das erwirtschaften“, betonte sie. Ohne die Pendler aus dem Umland wäre die Wirtschaftsleistung des Ballungsraums nicht möglich. „Unsere Einwohner können nur dort Arbeit finden, weil hier die Arbeitsplätze verschwunden sind“, erläuterte sie.

 

Die Entschuldung durch die Hessenkasse sei auch deshalb notwendig geworden, „weil wir vorher bei der Gewerbesteuer keine Chance hatten.“ Pfeiffer-Pantring beschrieb die Hindernisse, durch Umweltschutz und Genehmigungsbehörden eigene Gewerbeflächen zu entwickeln. „Ich bejubele die Hessenkasse nicht, weil ich sie so toll finde, sondern weil sie ein bisschen Druck wegnimmt.“ In den letzten Jahren sei es demotivierend gewesen, Kommunalpolitik zu machen. „Ich sehe, wie die Kommunalpolitik zermürbt sind, weil die keine Lust mehr haben, für defizitäre Haushalte die Hand zu heben.“

 

Müller wies darauf hin, dass der Bund in der letzten Legislaturperiode 60 Milliarden Euro für den ländlichen Raum zur Verfügung gestellt habe. Diese Gelder müssten natürlich durch die Landesregierungen an die Kommunen weitergegeben werden. „Ich habe den Eindruck, dass in Hessen die Landespolitik ein bisschen klebrige Finger hat.“ Von den 50 Milliarden Euro der Hessenkasse zur Entlastung der Kommunen kämen nur 20 Prozent aus Landesmitteln.

 

Gnadl erklärte, das Land habe die Kommunen geschwächt, indem es dauerhaft Gelder aus dem Finanzausgleich entnommen habe. „Die Politik der letzten Jahre hat dazu geführt, dass die Hessenkasse notwendig wurde.“ Dazu komme eine Bevorteilung des Ballungsraums durch das System der Finanzierung. Durch diese Unterfinanzierung sei es in vielen Bereichen schwierig geworden, Infrastruktur zu erhalten. Als Beispiele nannte sie die Hallenbäder in Nidda und Büdingen, die geschlossen werden mussten. „Dass Land Hessen muss eine Vorreiterrolle bei den Arbeitsplätzen im ländlichen Raum übernehmen“, forderte Gnadl. Durch eine Dezentralisierung der Behörden könne Hessen einen Beitrag zur Förderung des ländlichen Raums leisten. Stattdessen sei das Amtsgericht Nidda geschlossen worden. Die zusätzlichen Stellen beim Finanzamt der Stadt würden diesen Verlust nur ausgleichen, aber keine zusätzlichen Arbeitsplätze schaffen.

 

Kötter wies auf die Bedeutung eines attraktiven Verkehrsangebots hin, damit die Pendler nicht in die Nähe ihrer Arbeitsplätze ziehen. „Den Schienenring um Frankfurt halte ich für ein ganz wichtiges Projekt“, lobte er die Ankündigung des SPD-Spitzenkandidaten Thorsten Schäfer-Gümbel. Er zweifle allerdings, ob er die Realisierung noch in seiner aktiven Berufszeit erlebe. Deshalb müssten Planungszeiten verkürzt werden, um Nahverkehrsprojekte schneller umsetzen zu können. Außerdem müsse die gesamte Vielfalt der Möglichkeiten genutzt werden. Kötter erwähnte Busse, die ähnlich wie Straßenbahnen auf einer festen Trasse fahren. Statt durch Schienen sei diese jedoch durch eine Leitlinie markiert. Auch die Elektromobilität könne sicher einen Beitrag leisten. „Die Realisierungszeiträume sind deutlich kürzer als beim Schienenverkehr.“

 

In der anschließenden Diskussion sprach unter anderem der frühere Landrat Rolf Gnadl noch einmal das Problem der Unterversorgung des ländlichen Raums mit Ärzten an. „Wenn die Leute weglaufen, weil sie nicht ausreichend versorgt sind, ist es um den ländlichen Raum schlecht bestellt.“ Müller bestätigte, dass es in den östlichen Regionen von Wetterau- und Main-Kinzig-Kreis schwer sein werde, die frei werdenden Arztstellen zu besetzen. „Wir müssen uns darauf gefasst machen, dass wir in einigen Bereichen weiße Flecken haben, die wir mit anderen Modellen versorgen müssen“, stellte sie fest. Ausdrücklich machte sie dafür die Kassenärztliche Vereinigung verantwortlich. Obwohl diese Geld bekomme, um die Versorgung zu sichern, komme sie dieser Aufgabe nicht nach. Müller wies auf Gesetzesinitiativen des Bundes hin, die Lösungen für Teile des Problems bieten könnten. So sollen die Niederlassungssperren für Landärzte aufgehoben werden. Allerdings müssten diese Regelungen von der Landesregierung umgesetzt werden. Studenten mit besonderem sozialen Engagement solle der Zugang zum Medizinstudium erleichtert werden. Als positives Beispiel nannte Müller den Vogelsbergkreis. Der vergebe Stipendien an Studenten, wenn diese sich verpflichteten nach dem Abschluss des Studiums drei Jahre im Kreis zu arbeiten.

 

(Kreis Anzeiger, 20.08.2018, Oliver Potengowski)