„Kompromiss darf kein Schimpfwort sein“

Bettina Müller und Christoph Degen sprechen über zunehmende Angriffe auf Kommunalpolitiker

Sie werden bedrängt, bedroht und beleidigt, viele Kommunalpolitiker sehen sich zunehmenden Anfeindungen ausgesetzt. Wie frei können ehrenamtliche Mandatsträger bei Themen wie Windkraftanlagen oder der Unterbringung von Geflüchteten noch entscheiden? Zerstört eine lautstarke Minderheit die Grundlagen der demokratischen Debattenkultur? Und wie spielen die regelmäßigen Empörungswellen der AfD in die Karten? „Wir müssen alles dafür tun, um ehrenamtliche Kommunalpolitiker vor Angriffen zu schützen und gleichzeitig engagierten Bürgern dabei helfen, sich nicht von Populisten vor den Karren spannen zu lassen“, betonen die SPD-Bundestagsabgeordnete Bettina Müller und der Generalsekretär der SPD Hessen, Christoph Degen, im Gespräch mit GNZ-Redakteur Matthias Abel.

GNZ: Frau Müller, Sie sitzen seit 2013 im Deutschen Bundestag. Was haben die Bilder von rechtsradikalen Demonstranten, die im August Reichsflaggen auf der Treppe vor dem Parlamentsgebäude geschwenkt haben, mit Ihnen gemacht?

Bettina Müller: Ich hätte nie gedacht, dass so etwas möglich ist. Gleichzeitig möchte ich mich bei der Polizei bedanken, die schnell gehandelt hat. Die Aktion ist präzise geplant und vorbereitet worden. Es war ein symbolischer Akt, der mich sehr erschüttert hat. Gleichzeitig darf man den Vorgang jedoch nicht überbewerten. Ein Großteil der Bevölkerung steht hinter der Corona-Politik der Bundesregierung und lehnt Rechtsradikale oder Verschwörungstheoretiker ab.

Muss eine Demokratie entsprechende Angriffe aushalten?

Christoph Degen: Menschen müssen auf der Straße für ihre Überzeugungen einstehen können – egal, ob wir diese Auffassungen teilen oder nicht. Natürlich müssen wir erwarten, dass sie sich an die geltenden Regeln zum Schutz ihrer Mitmenschen halten. Auch mich haben die Bilder aus Berlin tief getroffen, vor allem, wie Bürger aus der Mitte der Gesellschaft Seite an Seite mit Rechtsradikalen demonstrierten.

Auch im Main-Kinzig-Kreis gibt es Kräfte wie die AfD, die versuchen, Proteste, etwa gegen den Bau von Windkraftanlagen, zu vereinnahmen. Wird hierdurch bürgerschaftliches Engagement diskreditiert?

Müller: Nicht wenn sich Initiativen klar gegen rechts abgrenzen. In Gründau hat die AfD Flugzettel verteilt und zur Unterstützung des Vereins Windjammer aufgerufen. Dessen Vorsitzende hat sich jedoch sofort klar davon distanziert. Auch in Flörsbachtal hat die AfD mit Flugzetteln versucht, ein ideologisch aufgeladenes Thema für sich zu nutzen, und sogar Wahlaufrufe gestartet. Die betreffenden Politiker haben sich inzwischen gegen die Vereinnahmungsversuche zur Wehr gesetzt.

Degen: Der Fokus muss auf dem Schutz und der Unterstützung der Ehrenamtlichen liegen. Wir Berufspolitiker auf Bundes- oder Landesebene haben es da schon einfacher, weil wir die Zeit haben, uns intensiver mit Themen zu befassen und zudem auf Mitarbeiter zugreifen können. In kleineren Orten fällt das ehrenamtlichen Kommunalpolitikern schwerer.

Müller: Dort kennt man sich persönlich und will oft einen Streit vermeiden. Deshalb müssen wir als Berufspolitiker alles tun, um die Demokraten vor Ort zu unterstützen. Im Fall der Windkraftdebatte in Flörsbachtal hat die Erste Kreisbeigeordnete Susanne Simmler klar Stellung bezogen und deutlich gemacht, dass hier eine Grenze überschritten wurde.

Degen: Man kann nicht in jede Wahlliste eintreten, auch wenn deren Anliegen den eigenen Interessen entspricht. Viele Bürgerinitiativen stehen fest auf dem Boden der Verfassung. Manchmal verstecken sich aber auch Populisten hinter begründeten Interessen. Deshalb ist es wichtig, dass die demokratischen Parteien, die unseren Grundwerten verpflichtet sind, auch auf kommunaler Ebene eine starke Basis haben. Denn bei ihnen ist es klar, wofür sie stehen. Bei der SPD seit fast 160 Jahren.

Wie erklären Sie sich dann die Stärke der AfD auch im Main-Kinzig-Kreis?

Müller: Die Partei hat bei der jüngsten Landtagswahl besonders im Osten des Kreises gute Ergebnisse eingefahren. Gerade in den ländlichen Gebieten müssen wir also aufpassen. Dort ist der Frust groß, weil viele Gemeinden kaum noch Handlungsspielraum haben. Kitas schließen, Supermärkte ziehen weg, die Menschen fühlen sich oft abgehängt. Das alles ist auch eine Folge der Politik der schwarz-grünen Landesregierung, die ihren Schwerpunkt auf die urbanen Gebiete legt. Demgegenüber setzt sich die SPD, auch im Main-Kinzig-Kreis, für die Stärkung des ländlichen Raums ein. Unsere Dörfer dürfen nicht ausbluten.

Degen: Der Kreis tut hier eine Menge. Beispiele sind der flächendeckende Breitbandausbau und die neue Koordinationsstelle für die ärztliche Versorgung.

Dennoch verschärft sich der Ton auch hier. Und auch im westlichen Teil des Kreises berichten Gemeindevertreter immer öfter von Anfeindungen und Einschüchterungsversuchen. Wie erklären Sie sich diese Entwicklung?

Müller: Die sozialen Medien haben die Hemmschwelle deutlich gesenkt, die Zurückhaltung vieler Menschen hat abgenommen. Deshalb ist es gut, dass die Bundesregierung den Gewaltschutzparagraphen im Strafgesetzbuch erweitert hat und nun auch Kommunalpolitiker besser schützt. Doch damit alleine ist es nicht getan. Wir müssen das Verständnis von Politik ändern, müssen Politik besser erklären und auch mehr Respekt einfordern. Wir müssen deutlicher machen, dass wir nicht bei Champagner und Trüffeln an Gesetzen arbeiten, sondern dass Politik ein harter, wenn auch oft sehr schöner Job ist. Deshalb lege ich großen Wert darauf, in meinem Wahlkreis präsent zu sein.

Haben Sie selbst auch Bedrohungen erfahren?

Degen: Ich erhalte oft E-Mails, die sehr bedenklich sind. Aber ich bin ein hauptamtlicher Politiker. Die Situation für Kommunalpolitiker ist viel schwerer. Ihnen müssen wir den Rücken stärken, denn sonst stellen sich viele Ehrenamtliche irgendwann die Frage, warum sie neben ihrer Familie und ihrem Beruf für die Anliegen der Allgemeinheit arbeiten sollen, wenn sie dafür auch noch Häme oder Beleidigungen erfahren.

Würden Sie den Betroffenen dazu raten, im Falle von Beleidigungen oder Bedrohungen an die Öffentlichkeit zu gehen oder sogar zu klagen?

Degen: Ja, auch wenn das oft nicht leicht fällt. Anders als auf der Bundes- oder Landesebene haben Politiker auf kommunaler Ebene oft kein Netzwerk. Deshalb ist es wichtig, dass wir in Hessen eine Anlaufstelle für Kommunalpolitiker auf den Weg bringen, die Betroffenen auch rechtliche Hilfestellungen bietet.
Zentral ist, dass entsprechende Vorgänge bekannt werden.

Was berichten Ihre Kollegen aus den Ortsvereinen? Gibt es da Angst, sich angesichts der zunehmenden Anfeindungen noch für einen Sitz im Gemeindeparlament zu bewerben?

Müller: Die Erfahrungen in Flörsbachtal nach der Flugzettelaktion der AfD haben gezeigt, dass Demokraten, wo sie entschlossen auftreten, große Solidarität erfahren, auch über Parteigrenzen hinweg. Hier läuft die Listenaufstellung für die anstehende Kommunalwahl gut. Dennoch herrscht in einigen Kommunen auch Unsicherheit. Die Morddrohungen gegen den früheren Landrat Erich Pipa oder die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke haben natürlich Eindruck hinterlassen. Einige überzeugte Demokraten zögern, ob sie ein Mandat annehmen sollen, vor allem aus Angst um ihre Familien.

Degen: In einigen Ortsvereinen läuft die Aufstellung der Wahllisten sehr gut, in anderen haben wir Probleme, jüngere Menschen zu finden. Wir dürfen aber nicht zurückweichen, denn die Lücken, die Demokraten hinterlassen, werden nur zu leicht von Radikalen gefüllt. Dass die NPD zeitweise den Ortsvorsteher in Altenstadt-Waldsiedlung gestellt hat, ist ein Warnschuss.

Wer sind diese Menschen, die oft als Wutbürger bezeichnet werden und die sich von gewissen Themen so vereinnahmen lassen, dass sie sogar vor Morddrohungen nicht zurückschrecken?

Müller: Diese Menschen sind vor allem eine Minderheit, das darf man nicht vergessen. Es ist mir sehr wichtig, Menschen nicht schlechtzureden, die sich für ihre Belange einsetzen. Nur dürfen dabei keine Grenzen in Richtung verbaler oder körperlicher Gewalt überschritten werden. Dass sich Menschen abgehängt fühlen, dass sie sich von der Komplexität der heutigen Gesellschaft überfordert fühlen und sich nach Vereinfachung sehnen, ist zunächst nichts, was wir verurteilen sollten. Wir dürfen nicht den Fehler machen, die Menschen nicht ernstzunehmen.

Degen: Genauso entscheidend ist es aber auch, gewisse Themen nicht zu überhöhen. Grundsätzlich habe ich großen Respekt vor Bürgerinitiativen, wenn sie sich von radikalen Kräften abgrenzen.

Hat die abnehmende Bereitschaft, auch über kontroverse Themen und Sachverhalte in angemessener Weise zu diskutieren, mit einer veränderten Berichterstattung zu tun, die von Politikern zunehmend einfache Lösungen und klare Haltungen bei komplexen Fragestellungen fordert?

Müller: Ohne Medienschelte betreiben zu wollen, führt das ständige Denken in Newstickern und Schlagzeilen dazu, dass für tiefergehende Analysen oder ein sorgfältiges Abwägen von Argumenten kaum noch Zeit bleibt. Wenn man nicht aufpasst, übernimmt man dieses Denken auch in den Parlamenten, die ja eine Vorbildfunktion für die Debattenkultur der Menschen besitzen sollten.

Degen: Die Menschen erwarten natürlich zu recht, dass die Parteien deutliche Konturen aufweisen. Politiker sollten klare Haltungen einnehmen. Das darf aber nicht dazu führen, dass man komplexen Problemen mit einfachen Lösungen begegnet, und es darf nicht zur Feindseligkeit führen. Demokraten müs-
sen immer miteinander reden können.

Müller: Das ist sehr wichtig. Das Wort Kompromiss darf nicht zum Schimpfwort werden. Kompromisse machen die Bundesrepublik erfolgreich. Ein Beispiel ist die Tarifpartnerschaft von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, die verhindern, dass unsere Wirtschaft durch wochenlange Streiks lahmgelegt wird, wie es in Frankreich oft der Fall ist. Auch der Föderalismus ist eine Stärke. Dass nahezu jedes Mittelzentrum in der Bundesrepublik über ein eigenes Theater verfügt, ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit.

Degen: Deshalb bin ich zuversichtlich, dass gerade die SPD als die Partei, die so stark in den Gemeinden verankert ist, nach der nächsten Kommunalwahl deutlich gestärkt wird. Zudem bin ich sehr erfreut, dass die Vorstände der SPD Main-Kinzig und der SPD Wetterau Bettina Müller erneut als Bundestagskandidatin vorgeschlagen haben. Es ist wichtig, dass sie sich auch weiterhin in Berlin für kommunale Belange wie die hausärztliche Versorgung im ländlichen Raum stark macht.

(erschienen am 12. September 2020 in der Gelnhäuser Neuen Zeitung)