Zeitenwende in Europa

Vom Main-Kinzig-Kreis nach Lemberg sind es keine 1.100 Kilometer, in unserer direkten Nachbarschaft werden Freiheit und Demokratie in einem Völkerrechtswidrigen Krieg angegriffen. Das ist auch eine Woche nach dem Einmarsch der russischen Soldaten in der Ukraine erschütternd, schien bis vor wenigen Wochen unvorstellbar. Putins Krieg ist eine Zäsur – für Europa, für die Welt, für uns.

Die Ukrainerinnen und Ukrainer leisten erbitterten Widerstand und die russische Armee kommt, allem Anschein nach, nicht so voran, wie sie sich das vorgestellt hat. Leider ist auch deshalb davon auszugehen, dass die kommenden Tage noch blutiger werden und viele Menschen umkommen werden.

Dennoch wird jetzt schon deutlich, dass Putin viele seiner jahrelang angestrebten Ziele nicht erreicht hat. Die westlichen Staaten, in denen er jahrelang durch das Verbreiten von Fake News und die Unterstützung von Populisten und Extremisten versucht hat, Zwietracht zu säen, stellen sich ihm in ungeahnter Einigkeit entgegen. Er hat für das gesorgt, was er immer vermeiden wollte: eine stärkere Präsenz der NATO in Osteuropa, der jetzt sogar weitere Staaten beitreten wollen. Sein in Russland propagiertes Bild als Hüter von wirtschaftlicher Stabilität zerfällt genauso schnell wie der Kurs des Rubels. Russland ist international isoliert, Oligarchen wenden sich von ihm ab und auch in den russischen Großstädten werden die Proteste lauter.

Was das für den weiteren Verlauf dieses Krieges, für die nächsten Monate bedeutet, darüber kann man nur spekulieren. Es erklärt aber, warum er jetzt mit dem nuklearen Säbelrasseln begonnen hat. Die Gefahr, dass wir einen großen Krieg führen, das Atomwaffen zum Einsatz kommen, ist vielleicht seit der Kubakrise nicht mehr so konkret da gewesen. Genau deshalb gehen Millionen von Menschen in ganz Europa auf die Straße, in den letzen Tagen auch mehrfach im Main-Kinzig-Kreis. Es ist wichtig, dass die politischen Maßnahmen funktionieren und das sie auf Zustimmung treffen. Vor allem ist es aber wichtig, dass die Zivilgesellschaft zeigt, dass sie für Frieden, Freiheit und Demokratie eintritt – und sich solidarisch mit den Ukrainerinnen und Ukrainern zeigt, die gerade für ihr Eintreten für genau für diese Werte von Putin an die Front eines Krieges gezerrt werden.

Ich glaube kaum jemand wird angesichts der Entwicklung der letzten Tage bezweifeln, dass es richtig ist, die Ukraine bei der Verteidigung ihres Landes zu unterstützen, Russland wirtschaftlich zu isolieren oder mehr in die Sicherheit Europas zu investieren. Trotzdem stehen wir damit auch an einer Zeitenwende in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Ich bin froh, dass der Bundeskanzler das in der Sondersitzung des Bundestages am vergangenen Sonntag deutlich gemacht hat und dass wir mit der durch unsere Geschichte gebotenen Umsicht diese Neuorientierung angehen. Die jahrzehntelang verfolgte Doppelstrategie, auf Dialog und auf Abschreckung zu setzen, bleibt dabei trotz allem die Grundlage. Europa muss auch in Zukunft die Kraft haben, Kriegstreibern wie Putin Grenzen zu setzen.

 

Dieser Beitrag erschien am 4. März 2022 als Kolumne in den Gelnhäuser Nachrichten.